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German Angst

Stefan Piltz • Apr. 24, 2021

German Angst

„Ihm wurde klar, dass diese ganze Nation von der Seuche einer ständigen Furcht infiziert war: gleichsam von einer schleichenden Paralyse, die alle menschlichen Beziehungen verzerrte und zugrunde richtete.“ – Thomas Wolfe, amerikanischer Schriftsteller


In seinem posthum erschienenen Werk „Es führt kein Weg zurück“ beschreibt Thomas Wolfe diese Furcht eindrucksvoll – sie bezieht sich auf das Leben im Faschismus. In diesen Corona-Tagen fühlt man sich aber wieder an sie erinnert: die deutsche Furcht ist als Germanismus sogar ins Englische eingewandert: als vielzitierte „German Angst“.

Denn während die anderen Staaten Europas ihre Regelungen behutsam lockern, steckt die Bundesrepublik im Lockdown fest, ja beschließt sogar Verschärfungen. Das verwundert, wenn man die puren Inzidenzzahlen des Europäischen Zentrums für Prävention und Kontrolle von Krankheiten betrachtet: Denn diese steigen zwar, bleiben hierzulande aber deutlich niedriger als in vielen Nachbarstaaten. Aber wenn Corona zur Apokalypse stilisiert wird und der Lockdown zur Lösung aller Probleme, die uns den Garaus machen, möchten manche gar nicht mehr herausfinden aus dem Lockdown.

Begründet wird dieser häufig mit der sogenannten Übersterblichkeit – sie war zu Recht in aller Munde, als im Dezember und Januar aufgrund der Pandemie besonders viele alte Menschen starben und die Zahl der Toten auf den höchsten Stand seit 1969 stieg. 1969 war nicht nur das Jahr des „Summer of Love“, der damals keinem Lockdown zum Opfer fiel, sondern auch das Jahr der fast vergessenen Hongkong-Grippe. Damals starben hierzulande mehr Menschen als im Corona-Jahr – obwohl es viel weniger Senioren gab: Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland lag damals bei gut 70 Jahren, heute sind es über 81 Jahre. Und das mittlere Alter der Bevölkerung lag damals bei 34 Jahren – heute liegt es bei 46 Jahren und damit 12 Jahre höher. Inzwischen weisen die Statistiken zudem eine deutliche Untersterblichkeit aus: In den vergangenen Wochen waren stets weniger als 19.000 Tote zu beklagen - in früheren Grippejahren waren es zum Vergleich in manchen Wochen bis zu 26.777.

Außerdem beginnen sich die Impfungen langsam auszuzahlen – weil inzwischen große Teile der vulnerablen Bevölkerung geimpft sind, haben sich die absoluten Todeszahlen deutlich reduziert.

Da verwundert einen die deutsche Todesangst: Die Gesellschaft hat offenbar vergessen, dass der Mensch sterblich ist und auch andere, viel tödlichere Krankheiten existieren. Eine Welt ohne Corona wäre besser, aber nicht viel weniger tödlich. Oder wie Erich Kästner damals dichtete: „Seien wir ehrlich – Leben ist immer lebensgefährlich!“

Aber vielleicht haben die Deutschen mit einer realistischen Risikoabschätzung einfach ein grundsätzliches Problem beziehungsweise reagieren, freundlich formuliert, besonders sensibel auf Gefahren. Während hierzulande der Astrazeneca-Impfstoff hochumstritten ist, haben die Briten damit schon fast 14 Millionen Menschen geimpft. Die Deutschen haben Angst vor Corona – aber noch mehr Angst vor Astrazeneca.

Nichts ist so lebendig wie unsere Angst. Als Anfang der 1980er Jahre der saure Regen Gesprächsthema war, diskutierte die Republik das „Waldsterben“: Magazine warfen mit Fotomontagen einen düsteren Blick in die Zukunft und zeigten Deutschland im Jahr 2000 als Land ohne Wald. An den Grenzen hingegen schien das Siechen der Bäume schon damals zu enden, als handele sich um eine deutsche Krankheit – die Franzosen sprechen bis heute von „le Waldsterben“.

Zu Zeiten, als in Europa der Rinderwahnsinn grassierte, drohten angeblich Hunderttausend Todesfälle. In den 90er Jahren fürchteten sich die Deutschen vor BSE. Während viele aus Angst ins Vegetarier-Lager wechselten und sich in Lebensgefahr wähnten, starben am Ende 177 Menschen – in 10 Jahren.

Als ein Tsunami 2011 die japanische Küste heimsuchte und das Atomkraftwerk in Fukushima außer Kontrolle brachte, reagierte nur ein Land mit dem sofortigen Atomausstieg: die Bundesrepublik. Kanzlerin Angela Merkel sagte damals: „In Fukushima haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können“. Was sie nicht sagte: Es war das stärkste bislang gemessene Erdbeben, das den GAU auslöste. 20.000 Menschen starben an den Folgen des Tsunamis, wegen Fukushima zählte Japan offiziell nur wenige Tote. Trotzdem glauben viele Deutsche, Fukushima sei schuld an der Horrorbilanz.

Selbst das Fach des Katastrophenfilms beherrschten in Hollywood lange zwei Deutsche: Wolfgang Petersen und der „Master of Desaster“ Roland Emmerich.

Irgendwie haben wir die Angst ganz gern – schon bei den Demonstrationen gegen die Nachrüstung forderte die Friedensbewegung „Mut zur Angst“.

Wir sind überversichert, fürchten uns vor allem und jedem, haben Angst vor der Globalisierung, vor jeder Baumaßnahme und Veränderung im Stadtteil, vor Google Street View und Dioxin-Ei. So angeschnallt und mit Helm auf dem Kopf sitzt der Wohlstandsbürger geimpft, gesundheitsüberwacht und rauchfrei hinter den Airbags, die er zwischen sich und dem Leben montiert hat. Je besser es uns geht, desto hasenfüßiger werden wir.

Aber müssen wir wirklich so furchtsam sein? „Fürchte dich nicht“ war die Botschaft des Christentums zu Ostern, welche wegen der Osterruhe in Vergessenheit zu geraten droht.

aus Wettrennen zum Mond, WDC 93, Juni 1948
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